Anna Rossell, W.G.Sebald: Literarische Erinnerung als letzte Hoffnung gegen Zerstörung und Tod
W.G. SEBALD: LITERARISCHE ERINNERUNG ALS LETZTE HOFFNUNG GEGEN ZERSTÖRUNG UND TOD
Anna Rossell
Universitat Autònoma de Barcelona
Zusammenfassung
Gegen Ben Hutchinsons These, der in seinem Artikel ’Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten’: the structure of the double-bind in W.G. Sebald zu dem Schluss kommt, dass Sebald in seinen Texten die Möglichkeit der Erinnerung und der Erkenntnis verneint, woraus Hutchinson die Unmöglichkeit jedweder Vergangenheitsbewältigung folgert, glaube ich, indem ich wiederholten, wesentlichen Merkmaln der sebaldschen Literatur nachgehe, schließen zu können, dass Vergangenheitsbewältigung das eigentliche Ziel ist, das Sebald beim Schreiben verfolgt und dass der Autor unaufhörlich Beweise liefert, dass diese nur auf eine individuelle, subjektive Weise geschehen kann.
Resumen
Contra la tesis de Ben Hutchinson, que en su artículo ’Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten’: the structure of the double-bind in W.G. Sebald llega a la conclusión de que Sebald en sus textos niega la posibilidad del recuerdo y del conocimiento, de lo que Hutchinson deduce la imposibilidad de cualquier superación del pasado traumático, creo poder afirmar, a partir del análisis de características esenciales y recurrentes de la literatura sebaldiana, que la superación del pasado traumático es precisamente el objetivo que Sebald persigue con su escritura y que el autor ofrece repetidas pruebas, que esta superación únicamente puede darse de modo estrictamente individual y subjetivo.
In seinem Artikel ’Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten’: the structure of the double-bind in W.G. Sebald analysiert Ben Hutchinson die ambivalente Beziehung zwischen W.G. Sebald und seinen literarischen Vorgängern ausgehend von der Erzählung Dr. K.s Badereise nach Riva aus seinem ersten Fiktionsbuch Schwindel. Gefühle. Hutchinson kommt zu dem Schluss, dass die Sebaldsche Intertextualität – in diesem Fall in seiner Interaktion mit einem Text Kafkas – den Teufelskreis aufdeckte, in dem Sebalds Erzähler gefangen sei, denn er ist sowohl Verfolger der Geschichte als auch ein von der Geschichte Verfolgter. Hutchinson beobachtet denselben Teufelskreis in der Wiederholung gewisser syntaktischer Strukturen und aufgrund der Notizen und Unterstreichungen mancher Passagen in seiner Privatbibliothek, Strukturen des Stils "je mehr ... desto weniger". Daraus folgert Hutchinson die Unmöglichkeit jedweder Erinnerung und Erkenntnis und darüber hinaus, konkret auf die deutsche Geschichte angewandt, eine Kritik jeder Möglichkeit von Vergangenheitsbewältigung.
Tatsächlich kann man in den Texten von Sebald viele Zitate finden, in denen der Erzähler oder eine der Personen Überlegungen anstellt, die eine äquivalente Beziehung zwischen Gedächtnis (Erinnerung) und objektiver Wirklichkeit in ernsten Zweifel ziehen. Meint der Erzähler in Schwindel. Gefühle. beispielsweise:
[...], dass sich mir im Kopf mit der Zeit vieles zusammengereimt habe, dass die Dinge aber dadurch nicht klarer, sondern rätselhafter geworden seien. Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle, [...], desto unwahrscheinlicher wird es mir, dass die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll.
oder der Hinweis Sebalds auf den autobiographischen Roman von Hans Dieter Schäfer in Luftkrieg und Literatur: "Je entschlossener ich mich auf die Suche begebe, desto stärker muss ich begreifen, wie schwer die Erinnerung vorankommt". Doch in Anbetracht des Sebaldschen Gesamtwerks bin ich, entgegen Hutchinsons These, der Meinung, dass man bei Sebald nicht zu einer Unmöglichkeit jedweder Vergangenheitsbewältigung kommen kann, sondern umgekehrt. Ich bin der Ansicht, dass diese Überlegungen einfach zum Sebaldschen literarischen Programm gehören, das sich manisch um eine einzige Axe herum dreht: das Studium der Mechanismen des menschlichen Gedächtnisses in Bezug auf die eigene Geschichte und mit dem Ziel, die eigene Geschichte zu bewältigen. Nach meiner Meinung führt das zu einem neuen Vorschlag der Beziehung zwischen Gedächtnis (subjektiv) und Wirklichkeit (objektiv), der die subjektive Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses für den einzig legitimen Weg der Vergangenheitsbewältigung hält. Im Folgenden werde ich versuchen, aufgrund anderer wesentlicher Merkmale, die für die Sebald’sche Literatur kennzeichnend sind, diese These darzulegen: das schon erwähnte manische Studium der Gedächtnismechanismen, die enorme Dichte seiner Texte – sowohl wegen der darin reflektierten aussergewöhnlichen Gelehrsamkeit als auch wegen der angewandten Technik der Intertextualität und des Interbiographismus -, die Auflösung der Grenzen zwischen Dokument und Fiktion und die Eigentümlichkeit seines sprachlichen Stils.
Das erste fiktive Werk Sebalds, Schwindel. Gefühle., beginnt mit der Erzählung Beyle oder das merkwürdige Faktum der Liebe. Schon in diesem ersten Text stellt der Autor sympomatisch dar, was die zentrale Überlegung seines ganzen Werkes ausmacht: die Mechanismen des menschlichen Gedächtnisses. Aber auch andere Ingredienzen dieser Geschichte wiederholen sich ständig in der Sebaldschen Fiktionsliteratur: ein Protagonist, der im wirklichen Leben existiert hat – hier der Schriftsteller Henri Beyle, bekannter mit dem Pseudonym Sthendal -, das Spiel zwischen der realen Biographie Beyles und der Fiktion und ein Erzähler, der sich anstrengt, so wortwörtlich wie möglich die Notizen eines anderen Erzählers wiederzugeben, nämlich Beyles, die er über seine vergangenen Erlebnisse geschrieben hatte mit der Absicht, "die Strapazen jener Tage aus dem Gedächtnis heraufzuholen [...]".
Als würde es sich fast um eine Auflistung handeln, wird der Leser im ersten Teil des Textes mit den Schwierigkeiten der Erinnerung konfrontiert, mit denen der Protagonist und erster Erzähler zu kämpfen hat. Man könnte sie folgendermaßen zusammenfassen: a) Erinnerungen von Ansichten, in denen sich Reales und Phantasiertes vermischen, b) Erinnerungen von emotional negativen Erlebnissen, deren Intensität das Gedächtnis blockiert und c) Erinnerungen an Ansichten, die er glaubt direkt gesehen zu haben, und die in Wirklichkeit die Erinnerung an das Bild einer Photographie sind.
So sagt der Erzähler, indem er die Notizen Beyles wiedergibt, wo er den Zug Napoleons über den Grossen St. Bernhard im Jahr 1800 in Erinnerung ruft, an dem er teilgenommen hatte:
"Die Notizen [...] demonstrieren eindringlich verschiedene Schwierigkeiten der Erinnerung. Einmal besteht seine Vorstellung von der Vergangenheit aus nichts als grauen Feldern, dann wieder stösst er auf Bilder von solch ungewöhnlicher Deutlichkeit, dass er ihnen nicht glaubt trauen zu dürfen, beispielsweise auf dasjenige des Generals Marmont, den er in Martigny [...] in dem himmel- und königsblauen Kleid eines Staatsrats gesehen zu haben meint, [...] obschon Marmont ja damals [...] seine Generalsuniform und nicht das blaue Staatskleid getragen haben muss."
Und weiter unten verweist er auf die zweite Variante der Schwierigkeiten, auf die das Gedächtnis stößt, als er schreibt:
"[...] dass er von der großen Anzahl der toten Pferde am Wegrand und von dem sonstigen Kriegsgerümpel [...] derart betroffen gewesen sei, dass er von dem, was ihn seinerzeit mit Entsetzen erfüllte, inzwischen keinerlei genaueren Begriff mehr habe. Die Gewalt des Eindruckes hätte diesen selber [...] zunichte gemacht".
Die dritte Variante bezieht sich auf das deutliche Bild der Stadt Ivrea, das sein Gedächtnis lange Zeit geprägt hatte:
"Es sei [...] für ihn eine schwere Enttäuschung gewesen, als er vor einigen Jahren bei der Durchsicht alter Papiere auf eine Prospetto d’Ivrea untertitelte Gravure gestossen sei und sich habe eingestehen müssen, dass sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegende Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von ebendieser Gravure."
Sebald, traumatisiert wegen der auferlegten Ignoranz seiner eigenen Geschichte und der Konsequenzen dieser Ignoranz, gibt sein Letztes her, um auf literarische Weise das verschüttete Gedächtnis wachzurufen, das nicht nur das des Nationalsozialismus sein wird. Das gesamte Fiktionswerk Sebalds setzt sich zum Ziel, obsessiv und allgemein dem Gedächtnis nachzugehen. Sein Erzähler, fast mit dem Autor selbst identisch, unternimmt ständig Reisen, um die Erinnerung herzustellen; er geht auf die Suche nsvh konkreten Menschen oder begegnet ihnen auf zufällige Art und Weise unterwegs und sucht sie auf, insofern ihre Gesellschaft und ihr Gespräch ihm bei seiner Reflexion über den Prozess der (Re)konstruktion der Vergangenheit hilft. Und doch sind seine Texte voll mit Überlegungen, die uns vor der trügerischen Beschaffenheit des Gedächtnisses warnen, davor dass jeder Versuch, die Realität objektiv zu rekonstruieren, zum Scheitern bestimmt ist. Der Widerspruch scheint evident: das Subjekt wäre unfähig den Teufelskreis zu brechen, die Dialektik, die das oben angeführte Zitat beinhaltet: "Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle, [...], desto unwahrscheinlicher wird es mir, dass die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll".
Doch meiner Meinung nach geht die Interpretation in eine andere Richtung: der Schlüssel dafür ist, glaube ich, ein neuer Realismusbegriff, den uns Sebald suggeriert, ein Realismusbegriff, der den subjektiven Weg der Erkenntnis für den einzig möglichen hält, um die Vergangenheit (wieder) herzustellen und somit auch die eigene Identität. Ein Begriff, ich meine, auf den sich auch Alexander Kluge bei dem von ihm so genannten Antirealismus der Gefühle stützt und der, wie der Bezeichnung zu entnehmen ist, die Wirkung der Gefühle auf die Realitätsperzeption der Menschen unterstreicht. Die Tatsache dass uns das Gedächtnis Fallen stellt, würde also nicht die Möglichkeit jeder Erkenntnis negieren, sondern, umgekehrt, behaupten, dass - unabhängig von der Beschaffenheit des Gedächtnisses - dieser Weg der einzig mögliche ist, überhaupt zu einer Erkenntnis zu gelangen, das Erinnerung und eigene Identität gerade unter Mitwirkung der persönlichen Filter hergestellt werden, die das Gedächtnis jedes Individuums bestimmen. Demnach, als Beyle den General Marmont betrachtet, kommen ihm italienische Wörter in den Sinn, die ihm vor kurzem ein Bekannter beigebracht hatte. Dieser automatische persönliche Assoziationsmechanismus bestätigt nochmal den subjektiven Charakter, der die Erinnerung bedingt, von den Gefühlen und der seelischen Verfassung direkt beeinflusst. Nicht zufällig ist dieser subjektive Assoziationsmechanismus ein wesentlicher Faktor bei der Wiedergewinnung der Erinnerung und in der Konstruktion der Geschichte und der literarischen Geschichten in den Sebaldschen Texten. Verursacht von Erinnerungsindizien knüpfen der Erzähler oder die Personen Assoziationen in so einem Ausmaß (Hypermnesie), dass sie Schwindel überfällt, was wiederum bei Sebald dialektisch mit der Ahnung von Zerstörung und Vergessen zu tun hat: die assoziativen Verbindungslinien treten in dem dichten intertextuellen Netz seiner Literatur zutage und in den ständigen kulturellen Hinweisen aller Art, mit denen der Erzähler oder die Personen eine konkrete Situation verbinden –oft Malerei und Literatur-. Das ist zum Beispiel der Fall in Die Ringe des Saturn, als der Erzähler, der nach einer Operation in einem Krankenhaus in Norwich im Bett liegt, ein Netz von Querassoziationen spinnt, inspiriert beim Anblick vom Fensterrahmen und einem Stück Himmel, die er vom Bett aus sehen kann: der Anblick verweist ihn auf ein Rembrandtsgemälde, das eine Anatomiestunde darstellt, der möglicherweise Thomas Browne, britischer Arzt und Schriftsteller, beigewohnt hat, dessen Schädel gerade in diesem Krankenhaus aufbewahrt ist. Der Erzähler verliert sich in Gedanken in diesen Querverbindungen und geht dann zum Stilkommentar jenes Schriftstellers über, dessen Charakterisierung fast identisch mit dem Sebalds ist.
Zur Betonung der Tragweite dieser Querverbindungen tragen auch viele Überlegungen bei, die Erzähler oder Personen anstellen, beispielsweise als der Erzähler in Austerlitz beim Betrachten einer verwickelten Baumwurzel über die geheimnisvollen Konnexionen der Geschichte nachsinnt, die so zur Allegorie werden, oder das Gefühl, das uns der Erzähler vermittelt, dass die Toten in uns und unter uns wieder lebendig werden – eine Variante davon stellt die Identifizierung des Autors mit seinen literarischen Vorgängern dar -, oder in Schwindel. Gefühle. jene Erinnerung des Erzählers an sich selbst, von Papieren umgeben, kreuz und quer Verbindungslinien ziehend.
Eine Stelle in der Erzählung Beyle oder das merkwürdige Faktum der Liebe deckt die absolute Subjektivität der Perzeption noch deutlicher und mit Humor auf, als der Erzähler die glühende Begeisterung beschreibt, in die Beyle gerät, als er der Oper Cimarosas Il Matrimonio Segreto beiwohnt:
Beyles Phantasie, [...] wurde nun durch die Musik Cimarosas noch weiter aufgewühlt", und er glaubte sogar "nicht nur selber auf den Brettern der primitiven Bühne, sondern tatsächlich im Hause des [...] Handelsherrn zu stehen und dessen jüngste Tochter in den Armen zu halten. […] dass die Actrice, wie er mit Sicherheit bemerkt zu haben glaubte, ihren Blick mehr als einmal eigens auf ihn gerichtet hatte, ihm die von der Musik versprochene Glückseligkeit würde bieten können. Es störte ihn keineswegs, dass das linke Auge der Sopranistin bei der Bewältigung der schwierigeren Koloraturen sich ein wenig nach aussen hin verdrehte, noch dass ihr der rechte obere Eckzahn fehlte; vielmehr machten sich seine exaltierten Gefühle gerade an diesen Defekten fest. Er wusste jetzt, wo das Glück zu suchen sei […].
Auf diese Art und Weise, aufgrund der Erinnerungen und der damit verbundenen Assoziationen, von den persönlichen Emotionen und Gefühlen gefiltert, (re)konstruiert das Subjekt die Geschichte und auch seine Identität - das wird sehr deutlich anhand des letzten Roman von Sebald, Austerlitz, wo die Unterscheidung zwischen Realem und Irrealem in Frage gestellt und deren Perzeption mit der subjektiven Wahrnehmung verbunden wird. Hier lesen wir die These des Naturwissenschaftlers Alfonso, des Onkels von Gerald, der in Bezug auf das Licht und seine Wahrnehmung durch das menschliche Auge meint:
Die vor allem von Gerald bewunderten Leuchtstreifen, […], existierten in Wirklichkeit gar nicht, […], sondern seien nur Phantomspuren, die verusacht würden von der Trägheit unseres Auges, das einen gewissen Nachglanz an der Stelle noch zu sehen glaube, von welcher das im Widerschein der Lampe nur einen Sekundenbruchteil aufstrahlende Insekt selber schon wieder verschwuden sei. Es sei an solchen unwirklichen Erscheinungen, […], am Aufblitzen des Irrealen in der realen Welt, an bestimmten Lichteffekten in der vor uns ausgebreiteten Landschaft oder im Auge einer geliebten Person, daß unsere tiefsten Gefühle sich entzündeten oder jedenfalls das, was wir dafür hielten. (p. 135).
Aber damit diese (Re)konstruktion stattfinden kann, braucht das Subjekt die Spuren der Erinnerung, die Indizien, die in ihm die Erinnerung wachrufen, die Bausteine, die das Subjekt aneinander und aufeinander für sich passend und sinnfindend fügen kann. So versteht sich, dass die Zerstörung - oder die Verschweigung geschichtlicher Fakten, was ihrer Zerstörung gleichkommt – ein wesentliches Leitmotiv der sebaldschen Texte ist, gegen die der Autor entschieden angeht; so versteht sich Sebalds Wut auf die deutschen Historiker und Schriftsteller der Nachkriegszeit, die er für unverantwortlich erklärte, weil sie den Luftkrieg der Alliierten gegen die deutschen Städte einfach ignoriert und nicht belegt haben; so versteht sich, dass seine Literatur eine Art Katalog zu sein scheint, in dem der Autor Representatives der europäischen Kultur der letzten Jahrhunderte im Detail mit der Absicht einsammelt, ein breites Spektrum davon vor der sicheren Drohung der unabwendbaren Apokalypse für die Nachkommenschaft zu retten – es kommen in seiner Literatur oft Personen vor, die sich den Naturwissenschaften, einer Sammeltätigkeit oder der Kunstgeschichte widmen. Sebald sammelt die Relikte der Vergangenheit, von den Geschichten, die er erfindet, oder die Photographien, die er in seinen Texten einbaut bis hin zu seinem sprachlichen Stil. In seinem letzten Roman, Austerlitz, verweist die Hauptperson, die diesen Namen trägt, allegorisch ständig darauf, indem er immer wieder von der Architektur alter Gebäude und deren Verwandlung im Laufe der Zeit spricht, als würde es sich um Palimpseste handeln: das Palimpsest, als Manuskript, das unter der letzten oberflächlicheren Schriftschicht die Spuren einer früherern Schrift ahnen lässt, symbolisiert dialektisch die Zerstörung und die Möglichkeit der Wiedergewinnung der Geschichte und des Gedächtnisses. In diesem Sinn kann man sagen, die sebaldsche Literatur ist ein Datenkonglomerat der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte der letzten Jahrhunderte, um so mehr als die Technik der Montage und der Intertextualität mit der der Autor arbeitet, seinen Texten eine außergewöhnliche Dichte verleiht. Von Sebald kann man sagen, er dichtet, indem er verdichtet.
Dieses Interesse, den absolut subjektiven Charakter des Gedächtnisses zu betonen, manifestiert sich nach meiner Meinung auch im sprachlichen Stil Sebalds, dessen Erzähler immer einer ist, der die Erzählung eines zweiten und oft sogar eines dritten weiter gibt. Dieses Spiel der Personen, die die Geschichte anderer übermitteln, findet seine Parallele in der eigentümlichen sebaldschen Syntax von ineinander geschachtelten Sätzen, die kaskadenartig auf die Worte einer zweiten oder dritten Person verweisen, im häufigen Gebrauch des Konjunktivs und in anderen stilistischen Mitteln, die das Ziel verfolgen, den Leser daran zu erinnern, dass der letzte Erzähler nur ein Übermittler der Worte anderer ist (so lesen wir ständig: "Beyle schreibt", "wie er uns versichert", "wie er bemerkt zu haben glaubte", etc.). Der Erzähler Sebalds strengt sich über alle Massen an, wortwörtlich die gehörten Geschichten anderer zu zitieren, sich selbst als Person zurückzuziehen. Doch dieser für Sebald so charakterische, fast pedantische Stil trügt, ist nur scheinbar der Stil eines von der Tragweite der Exaktheit seiner Wiedergabe überzeugten Chronisten, denn, wenn die Erinnerung täuscht, täuscht sie auch bei Worten. Es entsteht auf diese Weise ein Widerspruch zwischen der These Sebalds, dass das Gedächtnis keine Garantie für Objektivität sein kann und dem die extreme Genauigkeit anstrebenden Stil, den er pflegt. Doch der Widerpruch entsteht nur scheinbar - und wirkt daher durch den Kontrast ironisch -, denn Sebald gibt auch dazwischen genug Anzeichen davon, dass selbst diese Aufgabe, Worte anderer aus dem Gedächtnis haargenau wiederzugeben, zum Scheitern verurteilt ist: auch Worte sind interpretationsbedürftig, werden subjektiv vom Hörer wahrgenommen und wiedergegeben und werden vom subjektiven Gedächtnis so behandelt wie jedes andere Erlebnis auch. So schiebt Sebald oft, fast unmerklich, in seine scheinbar exakten Zitate kleine Kommentare ein, die jene vermeintliche Objektivität relativieren: "so erinnere ich mich jetzt, dachte ich damals", oder „wie ich mich zu erinnern glaube".
Auch der eigenartige Gebrauch von Photos und Zeichnungen, die Sebald in seine Texte einbaut, scheint mir das Ziel zu verfolgen, beim Leser die Reflexion zu veranlassen auf die subjektive Appellfunktion von Photographien, die in ihm Erinnerungen aufrütteln, auf Kosten seiner illustrativen Funktion. Die Wahl von benebelten, unscharfen Bildern verstärkt diese Appellfunktion an das Subjekt. Seine Bilder dienen nicht der Illustration der Texte, sondern sie ersetzen den Text, sie haben ihren ursprünglichen, authentischen Kontext verlassen und werden in einen neuen hineinversetzt, wo sie zur Fiktion werden. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmt, weil sie de facto auch nicht deutlich ist. Auf diese Weise entsteht in der Fiktion eine andere Realität, die das Subjekt - hier der Autor – konstruiert. So versteht sich, dass Sebald die Photographien nach eigenem Geschmack adaptiert und manipuliert, dass er die darauf abgebildeten Personen retuchiert, dass er aus einer Komposition ein Detail isoliert oder angeblich illustratives Bildmaterial benutzt, wenn dieses Material seinem authentischen Kontext entnommen ist und nichts Wesentliches zum Text beiträgt. In einem Interview, in dem Sebald nach den Kriterien für die Wahl seiner Photographien gefragt wird, weist Sebald auf diesen Appell an den Beobachter hin:
Man hat einen sehr realen Nukleus und um diesen Nukleus herum einen riesigen Hof von Nichts. Man selbst weiß nicht, in welchem Kontext eine dargestellte Person stand, um was für eine Landschaft es sich handelt. Ist es Südfrankreich, ist es Italien? Man weiß es nicht. Und man muss anfangen, hypothetisch zu denken. Auf dieser Schiene kommt man dann unweigerlich in die Fiktion und ins Geschichtenerzählen. Beim Schreiben erkennt man Möglichkeiten, von den Bildern erzählend auszugehen, in diese Bilder erzählend hineinzugehen, diese Bilder statt einer Textpassage zu subplantieren und so fort. […]. Dieses Gefühl habe ich immer bei Photographien, dass sie einen Sog auf den Beschauer ausüben und ihn sozusagen auf diese ganz ungeheure Art herauslocken aus der realen Welt in eine irreale Welt, also in eine Welt, von der man nicht genau weiß, wie sie konstituiert ist, von der man aber ahnt, dass sie da ist. [...]. Man kann sich diese Konjekturen von Lebensbahnen vorstellen, die aus den Photographien herauskommen, auf eine viel, viel deutlichere Weise als aus einem Gemälde.
Die Bejahung der subjektiven Komponente im Gedächtnis, im Menschen durch seine Gefühle bedingt, führt Sebald nicht zu dem Schluss, dass Vergangenheitsbewältigung unmöglich ist, sondern, umgekehrt, zur Bestätigung, dass sie erst dann möglich ist, wenn man den subjektiven Weg geht. Was Sebald – und Kluge – in Bezug auf Realismus vorschlagen hat, glaube ich, viel mit jener Unterscheidung der Romantiker zu tun zwischen Wirklichkeit, ein Begriff der auf die Objektivität verweist, und Wahrheit, ein Begriff der die subjektive Sicht auf die Welt aufnimmt. In diesem literarischen Spiel, einer Mischung von Realität und Fiktion, konstruiert Sebald seine Geschichten und seine Geschichte. Fiktionalisieren bedeutet bei ihm wieder herstellen, sich besinnen, sich als Subjekt konstruieren und die Vergangenheit bewältigen. Renate Lachmann fasst es mit diesen Worten zusammen: "Am Beginn der memoria als Kunst steht die Technisierung der Trauerarbeit. Die Bildfindung ‘heilt’ die Zerstörung".
Literaturverzeichnis
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.) (2003): W.G. Sebald. München: Text + Kritik.
Benjamin, Walter (1974), "Über einige Motive bei Baudelaire". In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. I·2. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Boehncke, Heiner (2003): "Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder". In Arnold, Heinz Ludwig (Hg.), W.G. Sebald. München, Text + Kritik, 43-62.
Hutchinson, Ben (2006): "’Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten’: the structure of the double-bind in W.G. Sebald". In: Revista de Filología Alemana, Num. 14, Madrid, Publicaciones de la Universidad Complutense, 101-111.
Kluge, Alexander (1999): "In Gefahr und grösster Not bringt der Mittelweg den Tod". In: Schulte, Christian (Hg.): Texte zu Kino, Film und Politik. Berlin: Vorwerk.
Kluge, Alexander: "Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle". In Kluge, Alexander (1987): Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit. Berlin: Klaus Wagenbach.
Lachmann, Renate (1990): Gedächtnis und Literatur. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Rossell, Anna (2004): " La percepción del tiempo y de la historia en Austerlitz, de W. G. Sebald". In Domínguez, Mª José; Lübke, Bárbara; Mallo, Almudena (Hgg.), El alemán en su contexto español / Deutsch im spanischen Kontext. Universidad de Santiago de Compostela, Servizo de Publicións e Intercambio Científico, 577-589.
Sebald, Winfried Georg (1990). Schwindel. Gefühle.. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag
Sebald, Winfried Georg (2001): Austerlitz. München, Wien: Carl Hanser Verlag.
Sebald, Winfried Georg (2002) [1999], Luftkrieg und Literatur. Frankfurt am Main: Fischer.
Sebald, Winfried Georg (1994) [1992], Die Ausgewanderten. Frankfurt am Main: Fischer.
Sebald, Winfried Georg (1995), Die Ringe des Saturn, Frankfurt am Main: Eichborn.
Scholz, Christian (26/27-2-2000): "Ein Gespräch mit dem Schriftsteller W.G. Sebald über Literatur und Photographie". In Neue Zürcher Zeitung, 77 u. ff.
Schulte, Christian (2001): "Die Lust aufs Unwahrscheinliche. Alexander Kluges Chronik der Gefühle". In: Merkur, Heft 4, 344-350.
Weber, Markus R. (2003): "Die fantastische befragt die pedantische Genauigkeit. Zu den Abbildungen in W.G. Sebalds Werken". In Arnold, Heinz Ludwig (Hg.), W.G. Sebald. München, Text + Kritik, 63-74.(2007)
(En, Marisa Siguán, Jordi Jané, Loreto Vilar y Rosa Pérez Zancas, "Erzählen müssen, um zu überwinden". Literatura y supervivencia, Ed. Sociedad Goethe de España, Barcelona, 2009, pp. 143-154).